us heutiger Sicht erscheinen Strafrecht,
Strafverfahren und Strafvollzug in der Zeit vor der
Königin als unvorstellbar grausam und mitleidslos. Die mit phantasievollen
Qualen verbundenen öffentlich vollstreckten Hinrichtungen wurden von der
Obrigkeit bewußt als Volksfeste inszeniert. Es gab sogar Städte, die bereit
waren, für solche Gelegenheiten zu bezahlen, um sich eine Hinrichtung zu
kaufen.
Wie ist eine solche Einstellung zu erklären?
Präsiandrisches Strafrecht darf nicht mit heutigen Maßstäben gemessen
werden. Heutzutage hat Strafjustiz die Aufgabe, dem Straftäter die
Grundlagen für ein straffreies Leben zu vermitteln, ihn nach Möglichkeit
wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Strafjustiz der frühmonarchischen
Zeit hatte eine gänzlich andere Funktion.
Das gesamte soziale Leben war eingebettet in den Zwiespalt zwischen der
göttlichen Ordnung und dem, was die Könige samt ihren Priestern daraus
ableiteten. Straftaten stellten diese Struktur in Frage. Gesellschaft und
Geschichte galten als Schauplatz des Kampfes zwischen den Göttern und ihren
Widersachern. Ein Straftäter hatte in diesem Kampf die Seite des Bösen
eingenommen und dadurch die göttliche Ordnung verletzt.
Im Strafrecht ging es also nicht um bloße Verfolgung und Ahndung von
Rechtsbrüchen, sondern um die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung. Die
Bestrafung, ja die Vernichtung des Übeltäters bedeuteten den Sieg des Guten
und waren somit Aufgabe aller Gläubigen. Bei der schon damals vorhandenen,
wenn auch noch nicht so ausgeprägten Vielfalt der Glaubensrichtungen war es
schwer zu erkennen, welche der zahlreichen Varianten der göttlichen Ordnung
nun die "richtige" sei.
Die Könige setzten natürlich stets ihren eigenen Glauben als maßgeblich
ein und änderten daher oft die Gesetze, die ihr Vorgänger - konform zu
seinem Glauben - aufgestellt hatte. Durch die vielen religiösen Gebräuche,
die aus ihrer Natur heraus weder gesetzlich noch priesterlich
festgeschrieben waren, sondern teils der Überlieferung folgten, teils von
Hohepriestern neu eingeführt wurden, bestand auf Dauer eine erhebliche
Rechtsunsicherheit.
Nicht nur, daß man als Untertan (der Begriff des Bürgers wurde erst durch
die Königin herausgestellt) nie wissen konnte, was für Regelungen man
abschließend befolgen sollte; der König konnte auch unverhofft sterben (wie
es etwa bei Semjin II., Uraces und Quracar der Fall war), wobei der
Nachfolger bisweilen sogleich Verhaftungen ehemals gesetzestreuer Männer
anordnete und sie aus Gründen, die man heute nur als Willkür bezeichnen
kann, bestrafte.
Im Grunde gab es kein Strafen im heutigen Sinne. Vielmehr wurde der
Delinquent als schädliches Glied der Gesellschaft herausgestellt, bisweilen
auch getötet, um die Gesellschaft vor ihm zu schützen. Das Individuum
spielte dabei überhaupt keine Rolle, die Gesellschaft (verkörpert durch
Wille und Person des Königs) stand ganz eindeutig im Vordergrund...
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