Auszug aus dem
"Wegebuch des Durik Zeyon"

von Zed Slinnic und Lenya Mecenny


Ein verwittertes Schild an einem Baum verkündete mir, daß dies die Allee des Verderbens war, und ich schritt munter aus, um endlich Grin Fildar zu begegnen. Als ich in die Straße der Schweigenden Bittsteller einbog, hatte ich das Verderben immer noch nicht gesehen. Vielleicht kam es nur nachts heraus.
Gut so.
Und dann war ich endlich in der Irrlichtstraße.
Auch ohne Magier zu sein, sogar ohne die nebenbei gehörten Ausführungen von Decea Everne hätte man das Haus von Fildar erkennen können. Nur ein Mann, der nach der Auskunft von Dreni das Studium der Ebenen betrieb, hätte sich in dem auffälligen Haus am Ende der Straße wohlfühlen können.
Es war schief.
Das war nicht nur so eine Windschiefheit, wie ich sie bei den Gebäuden am Ostufer gesehen hatte (und der nur das Usambrium selbst mit geringem Erfolg getrotzt hatte), auch keine handwerklich dürftige Schräge, die von mangelnder Baukunst hätte herrühren können, sondern das Ergebnis purer Absicht.
Die meisten Betrachter hätten hier einen besonderen Wahn vermutet, manche Zauberer vielleicht noch mathemagische Symbologie, aber nur ein Schemurier, der in Dhaintis studiert hatte, konnte hier in der Fremde ein Bauwerk erkennen, das Aedras würdig war.
Das ganze Haus bestand aus sich einander schneidenden Ebenen und schiefen Winkeln, die auf entsetzliche Stümperarbeit oder höchste Kunst schließen ließen. Nicht zwei Winkel waren gleich, und ich konnte auf den ersten Blick nicht einen einzigen rechten Winkel ausmachen, so verdreht sah es aus. Ich hoffte, daß wenigstens der Boden der Innenräume als parallele Ebene zur Straße angelegt war, sonst würde es schwierig werden.
Nachdem ich mir das zweistöckige Gebäude eingehend angesehen hatte, trat ich näher und klopfte an die trapezoide Tür, die sich nach unten hin verjüngte und obendrein eine Spur nach hinten geneigt war.
Erst rührte sich gar nichts. Endlich hörte ich Schritte, ein eigenartiges Knarren, und dann wurde die Tür quietschend geöffnet.
Vor mir stand ein älterer Mann, leicht gebeugt, in einer zerschlissenen grauen Hose und einem dunkelgrauen Hemd. An seinem Gürtel hingen allerlei seltsame Sachen. Ich erkannte drei Arten von Linealen, ein schlecht aufgerolltes Maßband und etliche Schnurstücke mit Knoten darin. Da war noch ein metallisches Ding, ein verschlossener Lederbeutel, aus dem eine Feder hervorschaute, und eine Metallspirale unbekannten Zwecks.
"Was ist?" fragte er ungehalten.
"Wenn Ihr Grin Fildar seid, der Magier, dann muß ich Euch dringend sprechen," gab ich zurück.
"So," murrte er, "müßt Ihr das? Schickt Euch etwa Niessem Frindox, der alte Hund? Sagt ihm, ich kann nichts dafür, wenn er seine Winkel falsch ausmißt und ihm die Dämonen entweichen. Wenn er schon zu senil ist, ein Pentagramm zu zeichnen, soll er besser damit aufhören. Und nun schert Euch weg!"
"Meister Fildar," sagte ich schnell, "niemand schickt mich. Es geht um die Türme von Neriddam und das Arbikon!"
Er sah mich verblüfft an. "Oh... Ihr seht nicht wie ein Magier aus, wenn ich das so offen sagen darf."
"Ich bin auch keiner," setzte ich schnell hinzu, "mein Name ist Durik Zeyon, Rätselforscher und Reisender."

"Nie gehört. Na, kommt erst einmal herein - vielleicht könnt Ihr mir sagen, wie sie Sache mit den verfluchten Türmen ausgegangen ist."
Ich hielt inne. "Die Türme sind verflucht?" Ha, ich hatte es ja geahnt!
"Unsinn," tadelte er mich, "warum sollte ich die Türme erst herstellen und dann verfluchen? Und warum habe ich mich von Bugas überhaupt in die Sache hineinziehen lassen? Seht Ihr, das sind Fragen, die Ihr mir stellen solltet! Und da habe ich schon eine passende für Euch: warum kommt Ihr nicht endlich herein?"


 
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